T. Senn: Hochkonjunktur, «Überfremdung» und Föderalismus

Cover
Titel
Hochkonjunktur, «Überfremdung» und Föderalismus. Kantonalisierte Schweizer Arbeitsmigrationspolitik am Beispiel Basel-Landschaft 1945–1975


Autor(en)
Senn, Tobias
Erschienen
Zürich 2016: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
532 S.
von
Anja Huber, Historisches Institut, Universität Bern

Die Schweizer Ausländerpolitik wurde seit der Gründung der Eidgenössischen Fremdenpolizei 1917 in ihren grossen Linien vom Bund bestimmt. Allerdings blieb den Kantonen als ausführenden Organen ein beträchtlicher Spiel- und Mitbestimmungsraum. Obwohl in praktisch allen Untersuchungen zur Schweizer Migrationsgeschichte auf die Bedeutung des kantonalen Vollzugs hingewiesen wird, fehlte bis anhin eine Studie zu dieser Thematik. Die Dissertation von Tobias Senn schliesst diese Lücke.

Senn siedelt seine Untersuchung im Zeitraum von 1945 bis 1975 an. In diesen Jahren erlebte die Schweiz eine Phase der Hochkonjunktur und die boomende Wirtschaft war in hohem Masse auf die Arbeitskraft von Ausländerinnen und Ausländern angewiesen. Senn untersucht am Beispiel des Kantons Basel-Landschaft, dem Kanton mit der stärksten Industrialisierung und Bevölkerungszunahme ab 1945, die Rolle und den Einfluss der Kantone bei der Entwicklung und dem Vollzug der Schweizer Arbeitsmigrationspolitik in der Nachkriegszeit. Als Methode wählt er einen «akteurszentrierten Systemansatz», womit er den Fokus auf das System der Schweizer Arbeitsmigrationspolitik und die in diesem System bestimmenden Akteure wie beispielsweise das Arbeitsamt und die Fremdenpolizei legt (S. 466). Als Quellengrundlage dienen Senn Akten der betreffenden Institutionen und Akteure aus dem Staatsarchiv Basel-Landschaft und dem Bundesarchiv Bern. Als wichtigsten Bestand nennt er die umfangreiche Aktensammlung des kantonalen Arbeitsamtes Baselland.

Senn formuliert zu Beginn seiner Untersuchung vier Phasen der Schweizer Arbeitsmigrationspolitik 1945–1975: die zweite Hälfte der 1940er Jahre (1945–1948), die «langen» 1950er Jahre (1948–1964), die 1960er Jahre (1964–1970) sowie die kurzen 1970er Jahre (1970–1975). Ausserdem gibt er in Kapitel drei einen umfassenden Überblick über die Strukturen und Akteure des Vollzugsföderalismus der Schweizer Arbeitsmigrationsplitik. Das Hauptkapitel zum kantonalen Vollzug der Arbeitsmigrationspolitik am Beispiel Basel-Landschaft ist chronologisch nach den oben erwähnten Phasen gegliedert. Senn zeigt, dass sich in den 1940er Jahren ein dezentral organisiertes System, welches die Zulassung von ausländischen Arbeitskräften in die Kompetenz der Kantone legte, etablierte. Dieses System wurde 1948 in der Teilrevision des «Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer» (ANAG) gesetzlich verankert. Im Kanton Basel- Landschaft nahm die Bedeutung des Arbeitsamtes gegenüber der Fremdenpolizei in diesen Jahren stark zu, insbesondere nachdem es 1948 zur federführenden Instanz bei der Zulassung von ausländischen Arbeitskräften erhoben worden war. In den 1950er Jahren festigte sich der bestimmende Einfluss der Kantone in der vollzugsföderalistischen Praxis. Senn spricht von den wirtschaftlich «goldenen» und migrationspolitisch «langen» 1950er Jahren, die von einer liberalen Zulassungspolitik geprägt waren (S. 32). Er zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass sich der Vorsteher des Arbeitsamtes Baselland, Adolf Ballmer, in diesen Jahren zum wichtigsten Entscheidungsträger der Arbeitsmarktpolitik des Kantons entwickelte und seinen Einfluss auch auf Bundesebene geltend machte. In den 1960er Jahren versuchte der Bund das System der Arbeitsmigrationspolitik zu reformieren, mit dem Ziel, mehr zentralstaatliche Kontrolle zu erlangen und eine gesamtschweizerisch einheitliche Zulassungs- und Aufenthaltspolitik durchzusetzen. Es kam zu ersten Versuchen einer Plafonierungspolitik, die den Zuzug von Ausländerinnen und Ausländern begrenzen sollte. In diesen Jahren entwickelte sich der Kanton Basel-Landschaft zu einem Vorreiter bei der Integration von Ausländerinnen und Ausländern. Senn zufolge bildete Baselland die «kantonale Speerspitze» des gemeinsam mit den Bundesbehörden vollzogenen migrationspolitischen Wandels vom «Rotations-» zum Niederlassungsprinzip (S. 330 f.). Vor dem Hintergrund der drohenden Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative erliess der Bundesrat im März 1970 dann die «Verordnung über die Begrenzung der Zahl von Ausländern» (BVO). Diese stand ganz im Zeichen der Überfremdungsangst und bezweckte ein «ausgewogenes Verhältnis» zwischen der schweizerischen und der ausländischen Wohnbevölkerung. Auf deren Grundlage entwickelte der Bund eine interventionistische «Stabilisierungspolitik». Der Kanton Basel-Landschaft stand dieser Politik ablehnend gegenüber, da er auf die föderalistische Selbstständigkeit pochte und der lokalen Wirtschaft die grösstmögliche Entscheidungsfreiheit garantieren wollte. Allerdings funktionierte die Angst vor einer «Überfremdung» der Schweiz in der Nachkriegszeit laut Autor generell als einigende Klammer der in die Arbeitsmigrationspolitik involvierten Behörden.

Senn gelingt es in seiner Studie, die aktive Rolle der Schweizer Kantone bei der Ausgestaltung der Schweizer Arbeitsmigrationspolitik am Beispiel des Kantons Basel-Landschaft und seinen wichtigsten Akteuren überzeugend darzulegen. Er macht deutlich, dass die Arbeitsmigrationspolitik und insbesondere die Vollzugspraxis in den Jahren 1945 bis 1975 in direkter Zusammenarbeit zwischen Spitzenbeamten des Bundes und der Kantone entwickelt wurde. Senns Studie bietet eine äusserst reiche und genaue Beschreibung des Systems des Vollzugsföderalismus in der Schweizer Arbeitsmigrationspolitik der Nachkriegszeit und füllt somit die eingangs erwähnte Lücke in der Schweizer Migrationsforschung. Aufgrund der Detailtreue ist die Untersuchung allerdings sehr umfangreich geworden, so dass die wichtigen Ausführungen zur Theorie und Methode in den Anhang ausgegliedert wurden. Der Studie hätte etwas mehr «Kürze» an gewissen Stellen gut getan, ohne dass sie an Substanz verloren hätte. Ihr grosser Mehrwert ist aber, dass sie Licht in das komplexe und vielschichtige System des kantonalen Vollzugsföderalismus der Schweizer Arbeitsmigrationspolitik bringt und eine wertvolle Grundlage für weitergehende Forschungsbemühungen in diesem Bereich legt.

Zitierweise:
Anja Huber: Rezension zu: Tobias Senn: Hochkonjunktur, «Überfremdung» und Föderalismus. Kantonalisierte Schweizer Arbeitsmigrationspolitik am Beispiel Basel-Landschaft 1945–1975, Zürich: Chronos Verlag, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 421-423.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 421-423.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit